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Rede von Kultusministerin Heiligenstadt: Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2015 im Niedersächsischen Landtag

Rede von Kultusministerin Heiligenstadt: Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2015 im Niedersächsischen Landtag

Anrede,

heute begehen wir den 70. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen von Auschwitz. Mehr als eine Million Menschen kamen im Lagerkomplex von Auschwitz ums Leben, vor allem Juden und Jüdinnen aus allen Teilen Europas, aber auch sowjetische Kriegsgefangene, Sinti und Roma, Menschen aus dem Widerstand, Zeugen Jehovas und Menschen, die wegen ihrer Homosexualität oder als sogenannte „Kriminelle“ verfolgt wurden.

Auschwitz war jedoch nur ein Ort des Massenmords unter vielen anderen. Auch in Treblinka, Chelmno, Sobibor, Belzec oder Majdanek wurde fabrikmäßig gemordet. Und die meisten Juden und Jüdinnen sowie Sinti und Roma starben nicht in den Vernichtungslagern, sondern wurden von SS-, SA- und Polizeieinheiten an Erschießungsgräben niedergeschossen - Gräben, die sie zuvor selbst hatten schaufeln müssen, Millionen Männer, Frauen und Kinder. Viele andere starben an Hunger, Entkräftung und in Folge mörderischer Zwangsarbeit in den Ghettos. Bis heute für uns unvorstellbar furchtbare Taten!

Nicht nur der Opfer dieser Taten gedenken wir heute. Zu den Opfern des Nationalsozialismus gehören auch Millionen Kriegsgefangene, insbesondere aus der Sowjetunion, aus Serbien und aus Italien, außerdem zivile Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter aus allen Teilen Europas, Opfer der NS-Justiz und der Euthanasie-verbrechen, Wehrmachtsdeserteure, Frauen und Männer des Widerstands in ganz Europa.

Insgesamt starben mehr als 13 Millionen Menschen in Lagern, Ghettos, Gefängnissen und Euthanasieanstalten oder wurden auf offenem Feld erschossen.

Wir erinnern heute an die Opfer eines deutschen Verbrechens mit gesamteuropäischer, wenn nicht sogar weltweiter Dimension. Immer wieder hört man in dieser Hinsicht die Formel, die Verbrechen seien „im deutschen Namen“ begangen worden. Doch was bedeutet diese merkwürdige Formulierung eigentlich?

Es schwingt hier eine Distanzierung mit, eine Entkonkretisierung, und manchmal auch der Verweis, auch andere hätten sich an den Verbrechen beteiligt. Sicher: Das Ausmaß der Kollaboration in den von der Wehrmacht besetzten Ländern darf nicht unterschätzt und darf auch nicht verschwiegen werden. Wenn wir von einem Verbrechen mit europäischer Dimension sprechen, dann betrifft das auch die Frage von Täter- und Mittäterschaft. Vor allem aber betrifft es diejenigen, die Opfer der Verfolgung wurden. 90 Prozent aller NS-Opfer waren Nicht-Deutsche, 90 Prozent aller NS-Täter waren Deutsche (und Österreicher).

Der Politologe Claus Leggewie spricht in diesem Zusammenhang von „geteilter Erinnerung“ in Europa. Eine gemeinsame europäische Identität könne nur wachsen, wenn die vergangenen Konflikte und ihre aktuellen geschichtspolitischen Folgen deutlich benannt und gesellschaftlich ausgehandelt werden. Dazu zählt, dass wir als Deutsche nicht nur die Opfer der NS-Verbrechen würdigen, sondern uns kritisch damit auseinandersetzen, wie es zu diesen Verbrechen kommen konnte. Und damit bin ich wieder beim „deutschen Namen“. Es war eben keine kleine Verbrecherbande um einen österreichischen Gefreiten, die Deutschland für ihre Verbrechen missbrauchte.

Nein, die NS-Verbrechen waren ein System - und mehr noch: ein Gesellschaftsverbrechen, begangen von vielen Millionen Tätern und Täterinnen, Profiteuren, Mitläufern und Menschen, die zugeschaut haben. Ob als Besatzungssoldat in Polen, der sich an Erschießungen beteiligte, oder als Bäuerin in Niedersachsen, die sowjetische Frauen zur Zwangsarbeit heranzog: Unzählige Deutsche waren in die Verbrechen involviert, öffentliche Verbrechen, die getragen wurden von einer radikal rassistischen Ideologie, die zwischen deutschen „Herren-„ und „Untermenschen“ unterschied, zwischen „Volksgenossen“ und „Gemeinschaftsfremden“, zwischen „Ariern“ und „Nichtariern“, zwischen „Wertvollen“ und „Nutzlosen“, die es auszugrenzen, auszubeuten und zu ermorden galt - alles zum Wohle der von den Nationalsozialisten propagierten „Volksgemeinschaft“, der nur angehören durfte, wer deutsch, arbeits- und folgsam, gesund und „rassisch“ wertvoll war.

Der heutige Tag ist an erster Stelle ein Tag der Würdigung, Ehrung und des Gedenkens all derer, die Opfer dieser rassistischen Politik wurden.

Dazu gehört, dass wir uns auch an den anderen 364 Tagen im Jahr wach und kritisch mit den Ursachen und Folgen der NS-Verbrechen auseinandersetzen müssen. Zur Ursachenforschung und der Auseinandersetzung mit den Ursachen gehört, sich mit den Wirkungsmechanismen von Ideologie auseinanderzusetzen und sich mit den Wirkungsmechanismen einer Praxis der Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Mordpolitik im Nationalsozialismus zu befassen. Gedenken darf sich nicht auf ritualisierte Trauerappelle beschränken. Gedenken braucht Wissen, und es muss Folgen für unser Geschichtsbewusstsein und für unser politisches Handeln haben.

Wer sich kritisch mit der Genese und den Folgen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Nationalsozialismus auseinandersetzt, der muss nicht nur zu der Überzeugung gelangen, dass Menschenrechte für alle gleichermaßen gelten müssen. Wir müssen auch feststellen, dass diese Rechte weltweit, aber auch in Deutschland weiterhin bedroht sind. So gibt es Stimmungsmache gegen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sowie die angebliche Islamisierung des Abendlandes. Es gibt rassistische Hetze gegen Roma aus Südosteuropa, genauso wie antisemitische Parolen auf Israel-kritischen Kundgebungen während des Gaza-Krieges im vergangenen Sommer.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Keinesfalls möchte ich die NS-Verbrechen mit heutigen Formen von Ausgrenzung, Verfolgung und Diskriminierung gleichsetzen. Das wäre nicht nur ahistorisch, sondern auch eine Bagatellisierung singulärer, monströser Verbrechen wie dem Mord an den europäischen Juden. Diese Verbrechen gegen die Menschheit lassen keinen Vergleich zu.

Aber wir müssen uns die Mechanismen anschauen, die wirken, wenn wir Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus zulassen. Schon die Ausgrenzung von Flüchtlingen aufgrund ihrer anderen Religion und Kultur bereitet den Nährboden für weitere Ressentiments und Rassismus.

Wir sind in der Pflicht, stets wachsam zu sein, wenn sich Menschenfeinde und Menschenfänger organisieren, um Stimmung zu machen gegen „Fremde“ oder „die Anderen“. Wir sind in der Pflicht, Fremdenfeindlichkeit frühzeitig zu entlarven und einzudämmen. Wir sind in der Pflicht, aufzuklären und zu erklären, damit organisierter Hass nie wieder Fuß fassen kann – in Deutschland nicht, und in Europa nicht.

„Wehret den Anfängen“, auf diese Formel lässt sich unsere gemeinsame Pflicht bringen.

Das ist das Ziel der historisch-politischen Bildung, die wir nicht nur in den niedersächsischen Schulen betreiben, sondern auch in den zahlreichen Gedenkstätten in Niedersachsen. Als Vorsitzende des Stiftungsrates der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten möchte ich betonen, dass die Förderung der Gedenkstättenarbeit nicht nur durch unsere Verpflichtung bedingt ist, die Opfer zu würdigen, sondern auch durch unsere Überzeugung, dass diese einen unverzichtbaren Beitrag dazu leistet, dass wir uns als Gesellschaft aktiv und kritisch mit unserer jüngeren Vergangenheit auseinandersetzen - auch und gerade in gesamteuropäischer Perspektive. Aus der geteilten Erinnerung in Europa kann dann ein gemeinsames Bewusstsein entstehen für die universellen sozialen, Freiheits- und Menschenrechte, die sich mit Artikel 1 unseres Grundgesetzes zusammenfassen lassen: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Artikel-Informationen

Ansprechpartner/in:
Sebastian Schumacher

Nds. Kultusministerium
Pressesprecher
Hans-Böckler-Allee 5
30173 Hannover
Tel: 05 11/1 20-71 48

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