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Rede von Herrn Minister Tonne anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Deportation der Sinti und Roma nach Auschwitz


am Sonntag, dem 4. März 2018, um 11.00 Uhr

in der Gedenkstätte Bergen-Belsen


Die Rede wurde i.V. für den erkrankten Minister durch Frau Ministerialrätin Claudia Schanz, Referatsleiterin im Niedersächsischen Kultusministerium, vorgetragen.


Es gilt das gesprochene Wort!


Anrede,

sehr geehrte Damen und Herren,

ganz herzlich möchte ich Sie zu der heutigen Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Deportation von Sinti und Roma nach Auschwitz begrüßen. Mein besonderer Dank gilt den beiden Überlebenden, Herrn Rudolf Weiß und Herrn Markus Diesenberg, die trotz ihres hohen Alters und der sicherlich schmerzhaften Erinnerung hier heute anwesend sind. Seien Sie herzlich gegrüßt.

In diesen Tagen vor 75 Jahren, Anfang März 1943, ließen die Gestapo und die Kriminalpolizei mehr als 20.000 Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportieren. Auch Nordwestdeutschland verließen Anfang März 1943 mehrere Transporte Richtung Auschwitz. Allein in Hannover stellte die Polizei am 3. März 1945, gestern vor 75 Jahren, einen Transport mit 500 Männern, Frauen und Kindern zusammen, die als sogenannte „Zigeuner“ nach Auschwitz deportiert wurden. Die meisten von ihnen ermordete die SS dort grausam in den Gaskammern. Viele andere starben an den Folgen von Hunger, Zwangsarbeit, Misshandlungen und Entbehrungen oder infolge pseudomedizinischer Experimente.

Das sogenannte „Zigeuner-Familienlager“ Auschwitz-Birkenau war der Endpunkt einer skandalösen Geschichte von Ausgrenzung und Diskriminierung, die bereits lange vor 1933 begonnen hatte und die nach 1945 nicht vorbei war. Der Rassismus gegen Sinti und Roma wurde von den Nazis nicht erfunden. Sie radikalisierten ihn aber bis zum Völkermord. Zwischen 100.000 und 500.000 Sinti und Roma wurden von SS, Einsatzgruppen, Polizei und Wehrmacht ermordet - die meisten starben bei blutigen Massakern in den deutsch besetzten Gebieten Ost- und Südosteuropas.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ihrer gedenken wir heute. Wir gedenken der unzähligen Männer, Frauen und Kinder, die von den Tätern erschossen, erschlagen oder im Gas erstickt wurden, weil sie - nicht anders als die Jüdinnen und Juden - als minderwertige „Rasse“ galten, die die „Blutsreinheit“ der selbsternannten Herrenmenschen nicht gefährden sollten. Diese Verbrechen und ihre Motivation entziehen sich unserer Vorstellungskraft. Und doch basierten sie auf einer Tradition von Vorurteilen und Ausgrenzungsdiskursen, die unter den meisten Deutschen bereits im 19. Jahrhundert populär waren und auch heute noch weit verbreitet sind - nicht nur, aber auch in Deutschland.

Nicht zuletzt aus diesem Grund tat sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft auch über Jahrzehnte schwer damit, den Völkermord an den Sinti und Roma als NS-Verbrechen anzuerkennen. Entschädigungsleistungen wurden den meisten überlebenden Sinti und Roma ebenso vorenthalten wie ihre gesellschaftliche und politische Würdigung. Staat und Gesellschaft haben sich damit eine zweite Schuld aufgeladen. Das sage ich ausdrücklich als Vertreter der Niedersächsischen Landesregierung.

Das millionenfache Leiden kann man nicht wiedergutmachen. Und selbstverständlich kann man der heutigen Generation keinen Schuldvorwurf machen. Aber: Wir haben die Verpflichtung, den wenigen Überlebenden, die es noch gibt, materiell beizustehen, und wir haben die Verpflichtung, offen und ehrlich nicht nur die Geschichte des Völkermordes an den Sinti und Roma selbst in den Blick zu nehmen, sondern auch den Unwillen der deutschen Mehrheitsgesellschaft nach 1945, sich damit auseinanderzusetzen. Daraus erwächst Verantwortung für einen kritischen Umgang mit unserer Geschichte; Verantwortung für ein Geschichtsbewusstsein, das sich darüber im Klaren ist, dass die Erinnerung an die NS-Verbrechen und ihre Opfer grundlegend bleiben muss für unsere demokratische Selbstverständigung - gerade auch, weil sich mit dem Einzug der AfD in diverse Landtage und in den Bundestag auch aus den Parlamenten heraus die Stimmen derer mehren, die ein Ende des vermeintlichen „Schuldkults“ fordern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es gibt keinen Schuldkult. Es gibt eine wache, eine kritische Erinnerungskultur, die die Opfer würdigt und zugleich nach den Ursachen von Rassismus, Gewalt und Mord im Nationalsozialismus und nach den Folgen nach 1945 fragt. Diese Erinnerungskultur wollen wir stärken. Ein kritisches Geschichtsbewusstsein vermittelt den Wert von Menschenrechten und demokratischen Grundrechten. Historisches Urteilsvermögen ist eine Grundvoraussetzung, auch aktuelle politische Fragen fundiert beantworten und Entscheidungen treffen zu können. Die demokratische Gesellschaft braucht die Erinnerungskultur. Wer die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bekämpft, bekämpft unsere Demokratie.

Zu einer lebendigen, wissensgestützten Erinnerungskultur gehört es, dass die Bandbreite der NS-Verfolgung in den Blick genommen wird. Ich bin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten sehr dankbar, dass sie die heutige Gedenkveranstaltung initiiert und zusammen mit dem Landesverband deutscher Sinti und dem Forum für Sinti und Roma organisiert hat. Nach wie vor ist der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma im Bewusstsein der Bevölkerung zu wenig verankert, auch wenn etwa mit der Einweihung des zentralen Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma gegenüber dem Reichstag im Herbst 2012 ein wichtiges öffentliches Zeichen gesetzt wurde.

Gedenken, so hören wir immer aus der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, braucht Wissen. Das ist richtig, und deshalb freue ich mich, dass die heutige Veranstaltung zum 75. Jahrestag der Deportation der Sinti und Roma nach Auschwitz eingebettet ist in ein sehr dichtes und differenziertes landesweites Programm, das bereits im Dezember letzten Jahres begann und etliche Vorträge, Diskussions- und Filmveranstaltungen, Lesungen und diverse andere Formate umfasst. Allen, die an diesem Programm innerhalb und außerhalb der Stiftung mitgearbeitet haben, möchte ich sehr herzlich danken.

Mein Dank gilt außerdem dem Verein für Geschichte und Leben der Sinti und Roma in Niedersachsen für die Ausstellung „Von Niedersachsen nach Auschwitz“, deren grundlegend überarbeitete und aktualisierte Neufassung wir im Anschluss an diese Gedenkveranstaltung eröffnen werden.

Die Ausgrenzung und Diskriminierung von Sinti und Roma, ich sagte es eingangs, begann nicht erst 1933, und sie endete nicht 1945. Auch wenn die gegen die Sinti und Roma gerichtete Rassenideologie der Nationalsozialisten nicht mit heutigen Formen des Rassismus gegen diese Minderheit gleichgesetzt werden kann, so weisen doch viele Elemente der Ausgrenzung und Verfolgung in der NS-Zeit Ähnlichkeiten zu früheren und auch zu heutigen Formen der Diskriminierung auf. Staatliche und kommunale Behörden zielten bereits vor 1933 darauf ab, Sinti und Roma aus der Gesellschaft auszugrenzen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verschärfte sich diese Politik. Es wurden die persönlichen Daten erfasst, die Bewegungsfreiheit der Sinti und Roma eingeschränkt und ein weitreichender Arbeitszwang eingeführt.

In der Ausstellung „Von Niedersachsen nach Auschwitz“ werden wir sehen, wie kurz der Weg von der rassistisch motivierten Erfassung und Ausgrenzung einer Minderheit zum Völkermord sein kann, wenn sich eine selbsternannte „Herrenrasse“ über diejenigen stellt, die nicht zur propagierten „Volksgemeinschaft“ zählen. Kommunale und staatliche Behörden bzw. die dort beschäftigten Beamtinnen und Beamten arbeiteten weitgehend aus eigenem Antrieb daran, die Minderheit der Sinti und Roma an den Rand zu drängen, sie festzusetzen und der SS auszuliefern. Wie dies geschah, sagt viel aus über die Wirkungsmechanismen einer rassistisch formierten Gesellschaft, die zwischen den „Eigenen“ und den „Fremden“ klar unterschied.

Dies differenziert darzustellen und nach der Motivation von Tätern, Mittätern und Zuschauern zu fragen, ist Aufgabe der Gedenkstätten. Zudem sollen sie dazu beitragen, bis heute anhaltende Wirkungsmechanismen des Rassismus gegenüber Sinti und Roma aufzuzeigen und insbesondere junge Menschen für die Achtung von Menschen- und Minderheitenrechten zu sensibilisieren.

Wir wissen, dass menschenfeindliche Einstellungen und Ideologien der Ungleichwertigkeit bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen - hierzu zählt auch der Antiromaismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Solchen Einstellungen und Verhaltensweisen, die nicht vereinbar sind mit den Grundwerten unserer demokratischen Gesellschaft, wollen wir entschlossen entgegenwirken. Daher unterstützen und initiieren wir mit Nachdruck innovative Projekte und Maßnahmen in Schulen und in Gedenkstätten, die präventiv wirken und solidarisches Handeln in einer vielfältigen, demokratischen Gesellschaft fördern. Als gutes Beispiel möchte ich an dieser Stelle den Beitrag für den 1. Preis des Schülerfriedenspreises 2016 erwähnen. Der Beitrag enthielt einen Film mit dem Titel „Sie haben mich als Mensch wahrgenommen - Schulerfahrungen von Roma und Sinti“, der ohne die Mitwirkung, den Mut und die Offenheit von Samantha Rose nicht zustande gekommen wäre. Ihnen - Frau Rose - dafür meinen ganz herzlichen Dank!

Sehr geehrte Damen und Herren,

die genannten Zielsetzungen verfolgt auch das von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten getragene und vom Bundesprogramm „Demokratie leben“ geförderte mehrjährige Projekt „Kompetent gegen Antiziganismus/Antiromaismus in Geschichte und Gegenwart“. Es soll in jeweils einjährigen Fortbildungen bestimmte Berufsgruppen gegen den Rassismus gegenüber Sinti und Roma sensibilisieren und sie mit den Folgen der Diskriminierung für die Minderheit vertraut machen. Als Niedersächsischer Kultusminister begrüße ich dieses Projekt mit Nachdruck, und ich danke den Selbstorganisationen der Sinti und Roma, dass sie bei der Konzeption der Fortbildungsreihen eng mit den Projektverantwortlichen zusammenarbeiten.

Mein größter Dank heute gilt den Überlebenden und ihren Angehörigen. Ich kann nur erahnen, was es für Sie bedeutet, an diesen Ort zu kommen, an dem Sie derart leiden mussten und gedemütigt wurden. In den Massengräbern rund um uns herum wurden unzählige Familienangehörige von Ihnen anonym bestattet. Ihrer gedenken wir heute. Ihnen, sehr geehrte Überlebende und Angehörige, danke ich, dass Sie den schweren Weg hierher angetreten haben, um mit uns gemeinsam an den Völkermord an den Sinti und Roma zu erinnern. Sie sind heute unsere Ehrengäste!

Artikel-Informationen

erstellt am:
04.03.2018
zuletzt aktualisiert am:
05.03.2018

Ansprechpartner/in:
Tanja Meister

Nds. Kultusministerium
Stellvertretende Pressesprecherin
Schiffgraben 12
30159 Hannover
Tel: 0511 120 7145

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