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Rede der Niedersächsischen Kultusministerin Frauke Heiligenstadt anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags am 27. Januar und des Gedenkens an den 75. Jahrestag der Deportation deutscher Juden am 29.01.2017


Es gilt das gesprochene Wort

Anrede,

am 27. Januar 1945, vorgestern vor 72 Jahren, befreiten sowjetische Soldaten das KZ Auschwitz, ein Lager, das zum Symbol für die Mord- und Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten geworden ist.
Über eine Million Menschen, vor allem Juden, aber auch polnische Widerstandskämpfer, Sinti und Roma sowie sowjetische Kriegsgefangene fielen dem fabrikmäßigen Gasmord in Auschwitz-Birkenau zum Opfer.
Etwa 66.000 Häftlinge waren Mitte Januar 1945 in Auschwitz noch am Leben.
Nur eine kleine Minderheit von ihnen wurde am 27. Januar 1945 tatsächlich befreit.
Für eine Mehrheit ging das Leiden am 27. Januar weiter.
Sie waren in den Tagen zuvor von der SS hastig auf Todesmärsche Richtung Westen getrieben worden, viele von ihnen nach Niedersachsen.
Wer die mörderischen Strapazen der Todes-märsche und das Inferno in Aufnahmelagern wie Bergen-Belsen überlebte, für den kam die Befreiung erst Mitte April oder sogar erst Anfang Mai 1945.

Es war der unlängst verstorbene Bundespräsident Roman Herzog, der 1996 den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärte. Historisch nahm er damit auf die Befreiung von Auschwitz Bezug.

Im öffentlichen Sprachgebrauch hat es sich in den vergangenen Jahren immer mehr durchgesetzt, den 27. Januar als „Holocaust-Gedenktag“ zu bezeichnen, insbesondere im internationalen Kontext.
So beschloss die UN-Generalversammlung 2005, den 27. Januar zum internationalen Gedenktag zu erheben und nannte ihn explizit „International Day of Commemoration in memory of the victims of the Holocaust“.

Der Holocaust, der Mord an den europäischen Juden, war unbestritten das zentrale Verbrechen der Nationalsozialisten, ein Verbrechen, das in der Geschichte beispiellos ist.
Sechs Millionen Kinder, Frauen und Männer wurden von den Nationalsozialisten und ihren Helfern aus einem einzigen Grund umgebracht: weil sie Juden waren oder von den Nazis für solche gehalten wurden.

Doch ist es sicherlich auch unser gemeinsames Anliegen, der weiteren Opfergruppen zu gedenken.
Die ersten, die in Konzentrationslager, SA- und Gestapokeller verschleppt, gedemütigt, misshandelt und ermordet wurden, waren politische Gegner der Nationalsozialisten: Sozialdemokraten und Kommunisten, Gewerkschafter, Literaten, Künstler sowie Männer und Frauen aus dem kirchlichen und bürgerlichen Widerstand.
Gerade weil die meisten Deutschen dem Regime zujubelten, muss das mutige Verhalten derjenigen, die Widerstand leisteten, umso mehr gewürdigt werden.

Exemplarisch möchte ich einen herausgreifen: Heinrich Jasper.
Mit einigen Unterbrechungen war der Sozialdemokrat von 1919 bis 1930 Ministerpräsident des Freistaates Braunschweig und als solcher einer der profiliertesten Gegner der Nazis während der Weimarer Republik.
Mitte März 1933 wurde er von der SA - wohl auf Betreiben des NS-Ministerpräsidenten Dietrich Klagges - in „Schutzhaft“ genommen und ins AOK-Haus gebracht, wo man ihn schwer misshandelte. Mitte April wurde er zwar wieder entlassen, jedoch nur vorübergehend, denn schon im Juni 1933 wurde er erneut verhaftet und in das KZ Dachau eingewiesen.
Dort blieb er bis 1939. Während des Krieges lebte er unter Gestapo-Überwachung in Braunschweig und wurde nach dem 20.Juli 1944 erneut verhaftet und über das berüchtigte „Lager 21“ in Salzgitter in das KZ Sachsenhausen bei Berlin eingewiesen. Von dort überstellte ihn die SS im Februar 1945 nach Bergen-Belsen, wo er wenig später an Fleckfieber starb - in etwa zeitgleich mit dem jüdischen Mädchen Anne Frank, die heute dank ihrer Tagebuchaufzeichnungen weltweit bekannt ist.

An Heinrich Jasper und die vielen Hunderttausend weiteren Männer und Frauen aus ganz Europa, die Widerstand gegen die Nationalsozialisten leisteten und das mit dem Leben bezahlten, denken wir am heutigen Tag.
Die Liste der von den Nazis Verfolgten ist noch deutlich länger.
Der Bekämpfung des politischen Widerstandes folgte ab Mitte der 1930er Jahre die sozial-rassistische Generalprävention, wie es Historikerinnen und Historiker heute nennen:
Alle, die nicht in die völkische Leistungs-gemeinschaft zu passen schienen, wurden rücksichtslos ausgegrenzt, verfolgt, inhaftiert und in vielen Fällen ermordet: angeblich genetisch belastete „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“, Kranke, Sinti und Roma und nun - nachdem die Ausgrenzungspolitik bereits seit 1933 immer mehr verschärft worden war - in großen Zahlen auch Juden und Jüdinnen, vor allem nach den Novemberpogromen von 1938.

Nach Kriegsbeginn kamen Kriegsgefangene sowie zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus allen Teilen Europas hinzu.
Besonders brutal gingen SS und Wehrmacht mit den sowjetischen Kriegsgefangenen um.
Über zwei Millionen sowjetische Soldaten starben allein im Winter 1941/42 in deutschem Gewahrsam, darunter viele in den sogenannten Russenlagern in der Lüneburger Heide.
Die sowjetischen Kriegsgefangenen bildeten auf dem Gebiet des heutigen Landes Niedersachsen die zahlenmäßig größte Opfergruppe.
Das wurde zu Zeiten des Kalten Krieges allzu oft verdrängt.

Die Verbrechen des Nationalsozialismus und die einzelnen Opfergruppen können nur im Gesamt-zusammenhang betrachtet werden.
Wir müssen sie in ihrer historischen Entwicklung sehen - und nicht nur von ihrem historischen Ende her, also dem fabrikmäßigen Morden in Auschwitz und den Leichenbergen etwa in Bergen-Belsen. Angesichts der Monstrosität dieser Verbrechen vergessen wir bisweilen die Brutalität des SA-Terrors der Jahre 1933/34 und der perfiden, sich schleichend verschärfenden rassistischen Ausgrenzungs- und Entrechtungspolitik der 1930er Jahre.

Gerade der Blick auf die frühen Jahre der NS-Herrschaft kann aber unsere Sensibilität gegenüber rassistischen, demokratiefeindlichen aktuellen Entwicklungen schärfen und uns helfen, mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen.
Und bedrohliche Entwicklungen, die große Sorgen bereiten, gibt es derzeit ja mehr als genug in Deutschland, Europa und weltweit: Nationalistische Abschottung, Hetze gegen Geflüchtete und vermeintlich kriminelle Ausländer, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, Abbau demokratischer Grundrechte und Wahlerfolge verschiedener rechtspopulistischer Parteien.

Um die mit dieser Entwicklung einhergehenden Gefahren erkennen und gegensteuern zu können, brauchen wir ein kritisches historisches Bewusstsein.
Dazu gehört es, die ganze Bandbreite der NS-Verbrechen in den Blick zu nehmen und - nicht nur an Tagen wie dem 27. Januar - aller zu gedenken, die Opfer der NS-Verfolgung wurden: Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Opfer der NS-Justiz und des Krankenmordes, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, sogenannte Asoziale und Widerstandskämpfer aus allen Ländern Europas.

Vergangenes aufzuarbeiten und den Transfer in die heutige Zeit herzustellen bedeutet neben dem Respekt und dem Gedenken an die Opfer auch Erinnerung an die Menschen mit Zivilcourage und Widerstandsgeist, an diejenigen, die sich für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt haben, unter welchen Umständen auch immer.

Vorbildlich geschieht die kritische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen tagtäglich in den niedersächsischen Gedenkstätten, von denen viele exemplarisch für eine oder mehrere der soeben genannten Opfergruppen stehen.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätten, seien sie staatlich, kommunal oder ehrenamtlich getragen, danke ich von Herzen für ihr großes Engagement und ihre Anstrengungen, ihre didaktischen Angebote methodisch ständig zu erweitern und neuen Fragestellungen aus der Gesellschaft anzupassen.
Erst vor wenigen Tagen habe ich im Kultusministerium zusammen mit Mitarbeitern der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten druckfrische Lernmaterialien für Kinder ab 9 Jahren vorgestellt, basierend auf der berührenden Lebensgeschichte von Marion Blumenthal Lazan aus Hoya, deren jüdische Familie Opfer der NS-Verfolgung wurde.
Besonders beeindruckt hat mich folgende Aussage von Frau Blumenthal Lazan: „Wichtig sind mir vor allem die Lehren, die wir daraus für die heutige Gesellschaft ziehen können: Wir müssen tolerant gegenüber anderen sein und dürfen niemanden aufgrund seiner Religion, Hautfarbe oder nationalen Herkunft beurteilen.
Die Schülerinnen und Schüler müssen positives Denken, Kreativität, Selbstehrlichkeit und innere Stärke entwickeln, damit sie nicht blind irgendwelchen Vorbildern folgen".

Frau Blumenthal Lazan sind Auftritte in Schulen inzwischen zur Lebensaufgabe geworden, damit möglichst viele Kinder und Jugendliche die Geschichte einer Überlebenden des Holocaust aus erster Hand hören.
Junge Menschen zu ermutigen und zu stärken, ihre Rolle in der Demokratie zu finden, sich für eine auf Toleranz, Vielfalt und Anerkennung basierende demokratische Gesellschaft einzusetzen und sie zu wachsamen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen, ist ein zentrales Ziel historisch-politischer Bildung insbesondere in der Schule.
Dafür engagieren wir uns!

Die Arbeit der Gedenkstätten wäre nicht denkbar ohne bürgerschaftliche Verankerung.
Tausende Menschen engagieren sich in Niedersachsen für die Arbeit in den Gedenkstätten, in Synagogen und Geschichts-initiativen.
Und schließlich ist die Gedenkstättenarbeit abhängig von staatlicher Förderung.
Alle im Landtag vertretenen Parteien arbeiten hier zusammen und sind sich ihrer geschichtlichen Verantwortung bewusst.
Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, dafür Sorge zu tragen, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

Die tagtägliche Gedenkstättenarbeit ist für eine historisch bewusste demokratische Entwicklung unserer Gesellschaft unverzichtbar.
Doch auch Gedenktage wie der 27. Januar haben eine wichtige Funktion.
Solange sie nicht im Ritual erstarren, tragen sie dazu bei, kritisches Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft zu fördern und zu schärfen.
Und sie würdigen die Opfer und ihre Angehörigen, von denen heute viele unter uns sind.
Anrede,
Gleich dürfen wir einem ganz besonderen, modernen Klang-Erlebnis jüdischer Musik des Shabbaton-Chors zuhören.

Dem Landesverband der jüdischen Gemeinden, namentlich Herrn Michael Fürst, danke ich von Herzen, dass er das heutige Gedenkkonzert zum 27. Januar organisiert hat. Gemeinsam gedenken wir aller Opfer des NS-Terrors.

Artikel-Informationen

erstellt am:
29.01.2017

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